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Bouchra Khalili
Geboren 1975 in Casablanca, Marokko; lebt und arbeitet in Berlin.

Bouchra Khalili versteht Geschichte als eine Konstellation von Kräften, die unsere Gegenwart durchdringen. In ihrer Praxis, die Film, Installation, Fotografie und Druckgrafik umfasst, schlägt die Künstlerin eine Neuerzählung der revolutionären Kämpfe des vergangenen Jahrhunderts vor. Geboren in Casablanca während der bleiernen Jahre Marokkos – einer Zeit der Unterdrückung und Unruhen, die in den 1960er Jahren begann und bis in die 80er Jahre andauerte – thematisiert Khalili insbesondere Wirkmacht und Scheitern des Nationalstaates. Am Anfang ihrer Projekte stehen Khalilis intensive Recherchen; sie greift auf historisches Material zurück und hinterfragt dabei restriktive Vorstellungen von Staatsbürgerschaft. In assoziativen Verknüpfungen von Bild und Ton beschwört sie revolutionäre Impulse.

Khalilis The Mapping Journey Project (2008-11), eine Acht-Kanal-Videoinstallation, gibt die Geschichten von acht Menschen wieder, die illegal aus Nordafrika oder dem Nahen Osten in den Mittelmeerraum gereist sind. Jeder Kanal zeigt eine Person, die ihren Grenzübertritt beschreibt und dabei die jeweilige Fluchtroute auf einer gedruckten Weltkarte nachzeichnet; nur die Hände der Person sind dabei im Bild zu sehen. The Mapping Journey Project zeigt das Spannungsfeld von Migration und überwachten nationalstaatlichen Grenzen und macht deren Kartographien sichtbar, die willentlich und notgedrungen überwunden werden.

Das Video The Tempest Society (2017) befasst sich mit dem Vermächtnis von al-Assifa (arabisch für „tempest“ / dt.: “Sturm”), einer Agitprop-Theatergruppe und sozialem Projekt, das im Paris der 1970er Jahre aktiv war. Die Geschichte von al-Assifa, die von einem marokkanischen Wanderarbeiter und zwei französischen Studentenaktivisten gegründet wurde, verläuft parallel zu größeren Zusammenhängen radikalen Protests. Die Gruppe besetzte Fabriken, Kinos und städtische Plätze und bezog die Öffentlichkeit durch die mündliche Wiedergabe von Geschichten ein. Obwohl zu den Unterstützer:innen von al-Assifa auch Aktivist:innen, Künstler:innen und Intellektuelle wie Michel Foucault und Gilles Deleuze gehörten, gibt es nur wenige Dokumente über das Kollektiv. The Tempest Society ist daher ebenso eine Geste der Weitergabe von Wissen wie eine Feier utopischer, in die Zukunft gerichteter revolutionärer Praxis. Für das 60-minütige Video, das von der documenta 14 in Auftrag gegeben und 2017 in Athen präsentiert wurde, lud Khalili drei junge Athener:innen mit unterschiedlichen Hintergründen ein, die Geschichte von al-Assifa zu erzählen. Inhaltliche Aspekte des Werks werden durch Fotografien von Pier Paolo Pasolini und Antonio Gramsci ergänzt und erweitert. Khalilis außergewöhnliche Neuerzählung von Geschichte positioniert die Betrachter:in in einer bewusst diskontinuierlichen Zeitlichkeit. Die Künstlerin zeigt wesentliche Verbindungen zwischen scheinbar disparaten Kämpfen auf und verweist auf die Kontinuitäten historischer Ereignisse, anstatt sie als abgeschlossen hinzunehmen.

Während ihres Aufenthalts bei Callie’s erstellte, probte und filmte Khalili The Magic Lantern (2022), eine Mixed-Media-Installation, die auf die Arbeit der Schweizer Videopionierin Carole Roussopoulos (1945-2009) zurückgeht, deren Videokamera und Werk bereits in Khalilis früheren Videoinstallationen Foreign Office (2015) und Twenty-Two Hours (2018) erschienen. Die Arbeit reaktiviert die Kunst der „Phantasmagorie“, eine Kulturtechnik aus dem späten 18. Jahrhundert, die projizierte Bilder mit lebhaften Erzählungen verband, um damit Phantome zu beschwören. Interessanterweise nutzten Aktivisten diese Technik, um den Geist der französischen Revolutionär:innen im öffentlichen Gedächtnis wachzuhalten. Khalili setzt diese Strategie ein, um einen verlorenen Film von Roussopoulos aus dem Jahr 1970 über den Kampf palästinensischer Geflüchteter wieder auferstehen zu lassen, und betrachtet The Magic Lantern als eine Fortsetzung ihrer Untersuchung zur Genealogie und Ethik von Solidarität. Die Arbeit wurde im Mai 2022 im Forum Freies Theater, Düsseldorf, erstmals gezeigt und wird im November 2022 bei Callie’s seine Berliner Premiere feiern.

Bouchra Khalili wurde 1975 in Casablanca, Marokko, geboren. Sie studierte Film- und Medienwissenschaften an der Universität Sorbonne Nouvelle in Paris und Bildende Kunst an der École Nationale Supérieure d'Arts de Paris-Cergy. Zu ihren jüngsten Einzelausstellungen gehören Poets & Witnesses, Museum of Fine Arts, Boston (2019); Bouchra Khalili: Blackboard, Jeu de Paume, Paris (2018); Bouchra Khalili, Secession, Wien (2018); Bouchra Khalili: The Mapping Journey Project, Museum of Modern Art, New York (2016); und The Tempest Society, Ibsen National Theater, Skien, Norwegen (2016). Ihre Arbeiten wurden auch auf internationalen Biennalen präsentiert, darunter die documenta 14 (2017), die 55. Biennale di Venezia (2013), die 18. Sydney Biennale (2012) und die 10. Sharjah Biennale (2011). Khalili ist Professorin für Artistic Strategies an der Universität für angewandte Kunst Wien und Gründungsmitglied der von Künstler:innen betriebenen Organisation La Cinémathèque de Tanger in Tanger, Marokko. Khalili lebt und arbeitet in Paris, Berlin und Wien.